TUM-Bildungsforscher testen Wahrnehmung der Studenten
Künftige Lehrer lernen professionellen Blick auf den Unterricht
17.12.2010, Pressemitteilungen
Wie guter Unterricht funktioniert, darüber erfahren Lehramtsstudenten heute eine ganze Menge. Dennoch folgt oft der „Praxisschock“, wenn sie zum ersten Mal vor den Schülern stehen. Der Grund: Ihnen fehlt die Kompetenz, um das Geschehen im Klassenzimmer richtig einzuschätzen. Bildungsforscherinnen der Technischen Universität München (TUM) haben nun ein Testverfahren mit Videos und standardisierten Fragen entwickelt. Damit können künftige Lehrer schon vor ihrem ersten Einsatz prüfen, ob sie auch komplexe Unterrichtssituationen professionell beurteilen. Der „Observer“ könnte schon bald zu einem festen Bestandteil des Lehramtsstudiums werden – auch in den USA.
Biologie, 6. Klasse: Ständig redet ein Schüler dazwischen oder tuschelt vernehmlich mit seinem Nachbarn. Am Ende der Stunde stellt der junge Lehrer fest, dass auch die anderen Kinder nur wenig vom Thema verstanden haben. Kein Wunder, denkt sich der Pädagoge: Der Störenfried hat alle anderen abgelenkt. Doch eine erfahrene Kollegin, die den Unterricht beobachtet hat, kommt zu einem ganz anderen Schluss: Der Lehrer hat die Schüler kaum zum Mitdenken angeregt und selten konkrete Beispiele genannt. Der Großteil der Schüler – nicht zuletzt der besonders unkonzentrierte Junge – war so wenig aufmerksam, weil er schlicht gelangweilt war.
„Anfänger im Lehrerberuf nehmen den Unterricht oft selektiver wahr und neigen dazu, Situationen undifferenzierter zu beschreiben“, sagt Geraldine Blomberg, Psychologin und Bildungsforscherin an der TU München. „Statt das große Ganze zu bewerten, also etwa die Interaktion im Klassenzimmer oder grundsätzliche Missverständnisse bei der Vermittlung, stürzen sie sich oft auf das Verhalten einzelner Schüler.“ Mangelnde Übung, zu pauschale Denkmuster und die Prägung aus der eigenen Schulzeit verleiten sie zu Fehleinschätzungen. Davor schützt auch das didaktische und pädagogische Wissen aus dem Studium nicht. „Das eine ist das gelernte theoretische Wissen. Das andere ist, dieses Wissen in der konkreten Situation anwenden zu können, um das Unterrichtsgeschehen professionell zu beurteilen“, erklärt Blomberg.
Bislang hatten Dozenten wenig Möglichkeiten, die Wahrnehmungskompetenz der Studenten schon vor dem ersten Einsatz in der Schule zu erfassen, um diese dann stärker zu trainieren. Ein Team am Friedl Schöller-Stiftungslehrstuhl für Unterrichts- und Hochschulforschung hat nun zu diesem Zweck ein standardisiertes Verfahren, einen Test namens „Observer“, entwickelt. Die Studenten sehen sechs Videos mit authentischen, komplexen Situationen aus dem Unterricht. Nach jedem Film müssen sie anhand eines Fragenkatalogs die Szenen im Multiple-Choice-Verfahren („trifft zu“, „trifft eher nicht zu“ usw.) beurteilen. Mit einem Tutor könnten sie dann Fehleinschätzungen besprechen und gezielt an ihren Schwächen arbeiten.
Die Fragen prüfen drei unterschiedlich anspruchsvolle Kompetenzen: Die Studenten sollen die Situation beschreiben, ihre Wirkung auf die Schüler erklären und die Folgen für das weitere Lernen prognostizieren können. Eines der Videos zeigt beispielsweise, wie ein Physiklehrer die Optik in den Unterricht einführt. Dann fragt der „Observer“ die Studenten unter anderem, ob der Lehrer das Thema in einen übergeordneten Zusammenhang einordnet, ob die Schüler die Bedeutung für die eigene Person erkennen und ob sie sich auf den kommenden Stoff einlassen konnten.
„Den Einsatz von Videos mit standardisierten Fragen zu kombinieren, ist ein bislang einmaliges Verfahren im Lehramtsstudium“, betont Projektleiterin Prof. Tina Seidel. Der Vorteil der Standardisierung: Die Dozenten können die Entwicklung der Studenten verfolgen. So konnten die Bildungsforscher zeigen, dass Lehramtskandidaten, die zunächst nur die Grundkompetenz der Situationsbeschreibung beherrschten, nach einem entsprechenden Seminar auch die Wirkung des Unterrichts richtig einschätzten. „Der ,Observer’ kann also zu einem wichtigen Instrument der Evaluation im Lehramtsstudium werden“, sagt Seidel. Künftig könnte es unterschiedliche Schwierigkeitsgrade für verschiedene Phasen des Studiums geben, oder spezialisierte Varianten für eine bestimmte Fachrichtung.
Derzeit testen elf deutsche Hochschulen mit unterschiedlichen Studienstrukturen die Entwicklung der TUM-Wissenschaftler. Auch US-Studenten schärfen bereits mit dem „Observer“ ihren Blick auf den Unterricht: Die Stanford University und die Northwestern University of Chicago erproben englische Versionen.
Hintergrund:
Die Technische Universität München hat 2009 die TUM School of Education als Fakultät für Lehrerbildung und Bildungsforschung gegründet. Sie ist fächerübergreifend für das Studium aller Lehramtskandidaten der TUM verantwortlich. Die Studierenden werden bereits ab dem ersten Semester mit Praktika an die Unterrichtspraxis herangeführt. Die Forschungserkenntnisse der Bildungswissenschaftler und Fachdidaktiker fließen unmittelbar in das Lehreramtsstudium und über Weiterbildungen in den Schulunterricht ein. Über ein Kooperationsnetz mit Schulen weckt die TUM School of Education mit zahlreichen Projekten bei Jugendlichen das Interesse für mathematisch-naturwissenschaftliche Studienfächer.
Kontakt:
Prof. Dr. Tina Seidel
Technische Universität München
TUM School of Education
Friedl Schöller-Stiftungslehrstuhl für Unterrichts- und Hochschulforschung
Schellingstraße 33
80799 München
Tel.: +49 89 289 25119
Fax: +49 89 289 25199
E-Mail: tina.seidel@tum.de
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