Über die Unvermeidlichkeit naturwissenschaftlich-technischer Bildung

Festrede des Präsidenten der Technischen Universität München, Professor Wolfgang A. Herrmann,
anläßlich des 60. Geburtstages von Dr. Jürgen F. Kammer, Vorstandsvorsitzender der Süd-Chemie AG

Januar 1999

 

Der TU-Präsident betonte, daß die Chemie den heutigen Wohlstand und die gestiegene Lebenserwartung erst ermöglichte und wies darauf hin, daß dem Wissen um naturwissenschaftliche Zusammenhänge in Deutschland nicht der gebührende Platz eingeräumt werde. Er mahnte die Notwendigkeit von Veränderungen in Schulen und Universitäten an, um Deutschland wieder an die Spitze der Industrienationen zu führen. Hier die leicht gekürzte Festrede.

Es paßt gut zum Geburtstag des Vorstandsvorsitzenden der Süd-Chemie AG, daß ich als Nachfolger von Emil Erlenmeyer - dem ersten Chemieprofessor an der damaligen Königlichen Polytechnischen Schule - diesen Vortrag halte. Erlenmeyer war ein Schüler Justus von Liebigs, dem Mitbegründer der ersten chemischen Fabrik im Königreich; sie stellte in Heufeld landwirtschaftlich-chemische Produkte her. Damals begann eine Allianz zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, die unser Land letztlich zur "Apotheke der Welt" machte.

Auf dem Friedhof zu Bern findet man eine Grabinschrift, derzufolge eine Familie vor 100 Jahren binnen zwei Wochen ihre vier Kinder an Scharlachfieber verlor. ... Die Chemikalienmedizin unseres Jahrhunderts hat diese Schrecken der Vergangenheit überwunden. Verdoppelt hat sich in Westeuropa seither die mittlere Lebenserwartung; sie nähert sich 80 Lebensjahren bei Frauen, 75 bei Männern - und steigt jährlich noch immer um drei Monate. ... Niemand bestreitet, daß es namentlich die chemischen, medizinischen, landtechnischen aber auch sozialen Fortschritte sind, denen man in politisch stabilen Zeiten die Segnungen eines schönen und langen Lebens verdankt. ... Heute relativiert sich jener Enthusiasmus, der Stefan Zweig in den "Erinnerungen eines Europäers" getragen haben mag, als er (über die Zeit um 1880) feststellte: "Die Menschen wurden schöner, kräftiger, gesünder, immer seltener sah man Verkrüppelte, Kropfige, Verstümmelte auf den Straßen, und alle diese Wunder hatte die Wissenschaft vollbracht, dieser Erzengel des Fortschritts."

"In Deutschland wachsen
die Gelehrten auf wie das Gras,
und deshalb werden sie auch
von Ochsen und Schafen oft genug getreten.
In Frankreich ist die Gelehrsamkeit
ein schöner, seltener Baum in einem schönen Garten
des vornehmen, reichen Mannes."

Weitere 100 Jahre vor der Grabinschrift und dem Erzengel gelangt der englische Landpfarrer und Nationalökonom Thomas Robert Malthus 1798 in seinem "Essay on Population" zur pessimistischen Prognose, "daß die Kraft der Bevölkerung unendlich viel größer ist als die Kraft der Erde, Unterhalt für die Menschen hervorzubringen". Die Bevölkerungen von Großbritannien, Frankreich und Amerika würden sich alle 25 Jahre verdoppeln; eine Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion sei mit derselben Zuwachsrate nicht zu erwarten. Die Geschichte hat Malthus' These widerlegt, und es ist dies eine Geschichte von Naturwissenschaft und Technik, die Geschichte der landwirtschaftlichen, der naturwissenschaftlichen und der industriellen Revolution: Man verbessert den Fruchtwechsel, führt die Kartoffel ein, ersinnt neue Methoden in der Pflanzenzucht und in der Güterverwaltung, baut landwirtschaftliche Maschinen, verbessert Verkehrswege, legt Sümpfe trocken, erkennt die Bedeutung von Kapital. Maschinen ersetzen die Muskelkraft, unbelebte Energie kommt aus Dampf und Elektrizität, und bald übertrifft die dampfgetriebene Spinnmaschine das Spinnrad um den hundertfachen Produktivitätsfaktor. Naturwissenschaft und Technik treten in das Geistesleben der Zivilisation ein, die sich damit auch in ihrem theoretischen Ansatz vom Grundsätzlichen her verändern muß. So schreibt W.F.A. Zimmermann 1858 in seinem Lehrbuch "Chemie für Laien": "In Deutschland wachsen die Gelehrten auf wie das Gras, und deshalb werden sie auch von Ochsen und Schafen oft genug getreten. In Frankreich ist die Gelehrsamkeit ein schöner, seltener Baum in einem schönen Garten des vornehmen, des reichen Mannes."

Spätestens mit der Entdeckung der Luftzerlegung durch Carl von Linde (1895) und des Haber-Bosch-Verfahrens zur Herstellung der Düngemittelgrundlage Ammoniak (1912) ist Malthus' Prognose widerlegt. Und doch: Der Bevölkerungszuwachs, der mit der industriellen Revolution in Europa eingesetzt hatte, ist heute hochexponentiell. Seine Bewältigung aber wird das existentielle Thema der kommenden Generationen sein: heute rund sechs Milliarden, Mitte des nächsten Jahrhunderts 10 bis 14 Milliarden. Das bevölkerungspolitische Problem wird darin bestehen, daß sich dieses Wachstum zu 95 Prozent in den Ländern der dritten Welt ereignet, während die Zuwachsrate in den entwickelten Regionen, zum Beispiel Europa, weiterhin linaer unauffällig ist. ... Die Diskussionen über die Sicherung unserer Renten hat in einem hochentwickelten Sozialstaat sehr wohl ihr Recht. Sie darf aber den Blick nicht trüben vor den großen Zusammenhängen, zum Beispiel: daß reiche Gesellschaften zunehmend mit dem Problem kämpfen, Ressourcen für die Älteren aufzuwenden, während der Rest der Erdkugel dieselben Ressourcen für die Ernährung seiner Kinder und Jugendlichen verlangt. ... Doch die hochentwickelten Industrienationen befinden sich in einem eigenartigen gedanklichen Widerspruch: Während das alltägliche Leben sowie die wissenschaftliche und wirtschaftliche Welt immer stärker und unausweichlich von Technik durchdrungen werden, wenden sich politische Strömungen davon ab, befördern Skepsis und Angst. ...

"Die Menschen im Zeitalter der industriellen Revolution waren davon fasziniert, Maschinen für Menschen arbeiten und Naturvorgänge in Fabriken ablaufen zu lassen."

Die Chemie als Wissenschaft hat sich kurz vor der Wende des 18. Jahrhunderts aus der mittelalterlichen "alchimia" heraus entwickelt. ... Die Alchemie war ein unstrukturiertes Gefüge aus philosophischen, theologischen, künstlerischen und handwerklichen Komponenten. ... Das reproduzierbare Experiment, ausgeführt am Beispiel exakter Gewichtsbestimmungen mit dem heute fundamental wichtigen Analytikinstrument der Laboratoriumswaage, hat durch Robert Boyle in England und Antoine Laurent Lavoisier in Frankreich die wissenschaftliche Chemie begründet (Verbrennungs- und Oxidationstheorie, 1777). Die Chemie stellte sich im 19. Jahrhundert zuerst der Aufgabe, die schon damals als komplex vermuteten Zusammenhänge aufzuklären, wofür man in der Atomtheorie von John Dalton (1802) ein tragendes Fundament sah. Obwohl sich die Chemie als Unterrichtsfach erst um 1835 mit dem jungen Professor Justus Liebig in Gießen etablierte, entwickelte sich die chemische Naturerkenntnis ... doch so rasch, daß man ab der Mitte des 19. Jahrhunderts daran denken konnte, natürlich vorkommende "Chemikalien", zum Beispiel Pflanzenfarbstoffe, im Laboratorium naturgetreu, aber eben "künstlich" herzustellen. Die Menschen im Zeitalter der industriellen Revolution waren davon fasziniert, Maschinen für Menschen arbeiten und Naturvorgänge in Fabriken ablaufen zu lassen - ebenso gut aber viel schneller und zumeist menschenwürdiger! Und dazu gehörte auch die chemische Synthese. "Künstlich" - ob Indigo oder Kautschuk - war synonym mit technischem Fortschritt, Triumph der Menschen über die Herrschaft der Natur. Tatsächlich begann sich genau in diesem Zeitabschnitt, Ende des 19. Jahrhunderts, als die Chemie zum Wirtschaftsfaktor wurde, die Identifikationsharmonie zwischen Mensch und Technik zu entwickeln. ... Brüchig wurde diese Allianz erst in den Siebzigerjahren unseres Jahrhunderts, als die westliche Welt in einer relativen Stabilität wirtschaftlicher Wohlfahrt über die Endlichkeit der Ressourcen und über die Boden- sowie Klimaveränderungen durch Hochindustrialisierung - jetzt als Überindustrialisierung empfunden - nachzudenken begann.

"Naturwissenschaft und Technik
sollten als legitime, zeitgemäße Ausdruckformen unserer Kultur begriffen werden."

Aus der Rückschau verständlich, war die Chemie in besonderer Weise betroffen, denn sie ist es ja, die alles Stoffliche hervorbringt, beschreibt und zumeist auch versteht. Sensibilisiert durch einzelne Fabrikunfälle wie jenen in Bhopal und Seveso, distanzierte sich damals insbesondere die jüngere (heute erwachsene) Generation vom Fortschrittsglauben in die Chemie, begegnete ihr zunehmend mit Skepsis und versuchte in Aktionen wie der alternativen Landwirtschaft die gänzliche Abkopplung der künstlichen von den natürlichen Stoffen. Künstlich - natürlich: In diese Feindbildsituation ist die Welt der Werte heute dummerweise eingeteilt. ... Naturwissenschaft und Technik sollten als legitime, zeitgemäße Ausdruckformen unserer Kultur begriffen werden, nicht anders als sich jede Epoche künstlerisch, literarisch und philosophisch artikuliert. Allerdings steigt in dem Maße, in dem Wissenschaft und Technik alle Lebensbereiche durchdringen, ja sogar umbauen, die Erfordernis, diesen Prozeß als neuen, integralen Kulturbegriff zu erfassen. Der fundamentale Lösungsansatz auf dem Weg der Vereinigung der zwei Kulturen - wenn es sie als Antihaltung zwischen naturwisenschaftlich-technischer und literarisch-philosophischer Intelligenz je gegeben haben sollte - beginnt in der Schule und setzt sich in der Universität fort. ...

Ingenieur, Chemiker, Physiker von morgen werden geistes-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Durchblick im wahrsten Sinne des Wortes haben müssen. Umgekehrt wird der Arzt, Jurist und Kaufmann ohne Grundkennntnisse naturwissenschaftlich-technischer Zusammenhänge selbst in seinem Fach nicht mehr als kompetent gelten, denn sein Entscheidungsraum ist längst nicht mehr technikfrei. ... Wenn man hier nach verstärkter Interdisziplinarität ruft, dann will man daran erinnern, daß die fachübergreifende Innovation die fachliche Exzellenz voraussetzt. ... Die höhere Schulbildung muß sich in unserem technisierten Lebensumfeld stärker als bisher den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern widmen und diese im Kontext der Gesamtwirklichkeit vermitteln. Es reicht weder für den künftigen volkswirtschaftlichen Bestand unserer Industrien noch für die gesellschaftliche Integrationsfähigkeit in die Technik aus, wenn wir Chemie, Physik und Biologie als voneinander weitgehend unabhängige Disziplinen begreifen und als solche lehren - von der aktuellen Unterbewertung dieser Fächer in den meisten Gymnasialtypen ganz zu schweigen.

"Die technisch beste Dampfturbine
verkaufen wir in die Aufbruchsländer Ostasiens nur,
wenn unsere Techniker
ein Resonanzempfinden für
die Kulturen dieser fernen Heimaten haben."

Wichtig ist in der neuen Schulbildung ein atmosphärischer Wandel dahingehend, daß technisches Wissen bewußt Teil unserer Lebenswirklichkeit wird, ja sogar unserer globalen Überlebensstrategie. ... Langzeitwirkungen des technischen Fortschritts, Technikverfügbarkeit in unterentwickelten Regionen, Risikoabschätzungen zivilisatorischer Errungenschaften - diese Problemfelder können nur auf einem Bildungsniveau Handlungsrichtlinien erhalten, zu dem die individuelle ethische Verantwortlichkeit ebenso gehört wie ein ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein. Ich halte deshalb nichts von einseitiger Fachausbildung unserer jungen Menschen, nur um damit möglichst rasch im Wirtschaftsprozeß erfolgreich zu sein. Die technisch beste Dampfturbine verkaufen wir in die Aufbruchsländer Ostasiens nur, wenn unsere Techniker ein Resonanzempfinden für die Kulturen dieser fernen Heimaten haben.

Was müssen wir besser machen, wenn wir die Welt von morgen verantwortlich mitgestalten wollen? Die Politik muß den Fokus auf eine Bildungspolitik setzen, die leistungsorientiert ist. Sie muß bereit sein, die Irrlehre zu begraben, daß die Begabungen und Interessen der jungen Menschen im wesentlichen gleich sind. Haben wir doch den Mut zur Anerkennung der Begabungsvielfalt! Ungleichartige Begabungen sind gleichwertig in einer differenzierten, hoch arbeitsteiligen Gesellschaft. ... Unser Bildungssystem muß buchstäblich vom Kopf auf die Füße gestellt werden; "wer die Welt mit der Hand begreift", muß genau so viel gelten wie der scharfe Denker - so hat es unser Bundespräsident in seiner Berliner Rede zutreffend formuliert. ... Nehmen wir Abschied von der Gleichheitsfiktion, die uns international ins Hintertreffen gebracht hat! ... Hier darf nicht das Mittelmaß das Maß der Dinge sein; auch die Leistungseliten müssen zu ihrem Recht kommen. Dabei geht es nicht nur um die Förderung der akademischen Eliten; Elite ist auch der Handwerksmeister, der seine Werte überzeugend in seinem Wirkungsfeld vermittelt. Eliten - das sind die Protagonisten und Gestalter des Wandels in allen Bereichen der Gesellschaft, verantwortungs- und leistungsbewußte Persönlichkeiten, die kritische Distanz zum Zeitgeist halten und gelegentlich auch gegen den Strom schwimmen. Eliten gibt es überall in unserer Gesellschaft, an der Werkbank ebenso wie im Forschungslabor und in der Politik.

"Eliten - das sind Protagonisten,
die gelegentlich auch gegen den Strom schwimmen. Eliten gibt es überall in unserer Gesellschaft,
an der Werkbank ebenso
wie im Forschungslabor und in der Politik."

Von der Politik erwarten wir, daß sie den Menschen Mut und nicht Angst macht. In seinen Lebenserinnerungen beklagt Altbundeskanzler Helmut Schmidt den "deutschen Zustand" und sagt, daß in Deutschland alles Neue mit der Angst beginnt. Dies sei der Grund dafür, daß wir in vielen Zukunftstechnologien hinterher hinken, was aufgrund der historischen Entwicklung für die Deutschen keinesfalls naturgegeben sei. Er faßt zusammen: "Wenn wir uns als unfähig erweisen sollten, diese in der Welt einmalige Psychose zu überwinden, so wird die deutsche Arbeitslosigkeit weiter steigen". ...

Die Universitätsforschung hat den Auftrag, die wissenschaftliche Wahrheit zu finden und sie zu verkünden, wenn sie gefunden ist. Vermehrt kommt es auf die Sprechfähigkeit der Wissenschaft in die Gesellschaft hinein an, denn in Zukunft wird vermehrt der öffentliche Konsens über den Auf- und Abbau ganzer Forschungsfelder entscheiden. ... Wissenschaft muß sich artikulieren, und zwar verständlich. ... An der Chemie- und Gentechnikdiskussion der vergangenen Jahrzehnte ist uns dieses Phänomen bewußt geworden. ...

Universitäten sollen Nobelpreiswissen erfinden, aber auch die Übersetzertalente ausbilden, die dieses Nobelpreiswissen in funktionierende Produkte, Verfahren und Dienstleistungen übersetzen. Mutig müssen wir unsere Position zwischen dem Elfenbeinturm der Wissenschaft und der verlängerten Werkbank der Industrie finden. ... Die Wirtschaft sollte die Allianz mit dem neuen Wissen als ihre größte Chance begreifen. Neues Wissen aber ist eine Sache der Jugend: Nach Expertenschätzung entstehen die Schlüsselergebnisse der Grundlagenforschung weit überwiegend durch die Arbeit der Nachwuchswissenschaftler, die jünger als 33 Jahre sind, hauptsächlich also in den Universitäten und sonstigen Forschungseinrichtungen des Landes.

Forschung ist nicht wie eine Glühlampe, die man nach Bedarf ein- und ausschaltet. Forschung bedeutet Kontinuität eines Wissenschaftssystems sowie Fleiß und Ausdauer des einzelnen. ... Die Wirtschaft muß Zukunftstechnologien beherzt aufgreifen und die Erfindungsschmieden der Hochschulen fördern. Abwartende Haltung ist in einer Zeit internationaler Wissensvernetzung schädlich, und das größte Risiko besteht darin, daß die Chance zum Neuen nicht genutzt wird. ... Die Dr. Karl Wamsler-Stiftung möchte ich hervorheben, weil sie großherzig die wissenschaftliche Mobilität junger Wissenschaftler fördert und öffentlich als Leuchtturm auch für andere wirkt.