Die Schulreform als erster, richtiger Schritt

Aus Sicht der Universität

Gastkommentar des Präsidenten der Technischen Universität München, Professor Wolfgang A. Herrmann

MÜNCHNER MERKUR, 24. Februar 2000

Wieder nehmen wir unsere Befindlichkeiten zu ernst, und die Zukunft unserer Kinder zu leicht. Das ist die Zwischenbilanz einer schul-politischen Debatte, die unnötig scharf geworden ist. Da sehen sich die ersten Ansätze einer Kultusministerin, das bayerische Schulwesen an den Herausforderungen einer modernen Gesellschaft zu erneuern, in einem Stellungskrieg von Verbands- und Einzelinteressen verfestigt. Während sich die einen (Bayer. Philologenverband) zum gegliederten Schulwesen bekennen und in logischer Konsequenz den Regierungs-entwurf einer 6-jährigen Realschule ab Grundschule befürworten, sehen die anderen (BLLV) ihre Hauptschule endgültig zur "Restschule" verkommen.

Wo sind hier die Hochschulen gefordert? Bei Lichte betrachtet sind sie Teil eines Bildungswesens, das nach Begabung und Leistung differenzieren muss, in der Grundschule ebenso wie an der Universität, nur eben nach anderen Maßstäben, mit anderen Methoden und für andere Ziele. Universität ist die "wissenschaftsgetriebene Schule", die am Forschungsgegenstand zur Fachkompetenz ausbildet und Bildungs-horizont sowie Bereitschaft zur kulturellen Sensibilität voraussetzt. Hierauf bereitet hauptsächlich das Gymnasium vor, zunehmend aber auch unmittelbar für das Berufsleben. Nur noch Dreiviertel der Abiturienten nehmen ein Hochschulstudium auf. Umso wichtiger ist zu diesem Zeitpunkt eine möglichst umfassende Bildung.

So richtig es ist, dass unsere auf modernen Technologien basierende Wissensgesellschaft den umfassend gebildeten Spezialisten braucht, so wichtig ist für unsere Wirtschaft auch die Kompetenz des fortgeschrittenen Handwerks. Unser Bildungswesen ist leider recht "kopflastig" geworden. Es hat vergessen, dass Beruf und Bildung zusammengehören. Wer die Welt mit der Hand begreift, sollte uns aber genausoviel gelten wie der theoretische Denker.

Alle diese Überlegungen erfordern eine weitere Differenzierung des Schulwesens, verbunden mit einer Erhöhung der Durchlässigkeit, wo dies geboten ist. Es gilt als erwiesen, dass im Alter von 10 Jahren die intellektuellen Anlagen zu mehr als 85% hergestellt sind. Auch lassen sich die Interessen, die mehr zu handwerklich-sozialen, zu fachgerichteten oder aber zu intellektuell-kreativen Tätigkeitsfeldern neigen, schon am Ende der Grundschule gut erkennen.

Der generelle Schnitt nach der vierten Klasse Grundschule kann der Hauptschule einen Qualitätsschub versetzen, weil auf die späteren Realschulabgänger nicht mehr Rücksicht genommen werden muss. Jetzt können das Einüben von Lesen und Schreiben als persönlich-keitsfördernde Urqualitäten, die handwerklichen Fertigkeiten und gutes Sozialverhalten zum zentralen Bildungsmotiv werden. Unsere Gesellschaft hat die erheblichen sozialen Defizite von Kindern aus wegbrechenden Elternhäusern selbst mitzuverantworten. Deshalb brauchen die Elementarschulen, insbesondere die Hauptschulen, auf genau diese Defizite spezialisierte Lehrkräfte, die dann auch eine mit gute Bezahlung wert sind. So angelegt, kann man sich für die Hauptschule von morgen profiltypische Zweige denken, auf die sich die Arbeit der Berufsschulen abbildet, z. B. hauswirtschaftlich-pflegerische (Haushalt, Ernährung, Gesundheitspflege, Sozialdienste), handwerklich-technische und landwirtschaftspraktische Segmente. Die "M-Züge" des Regierungskonzepts legen diese Entwicklung für die Hauptschule im Grunde ja an. Das erscheint vernünftig.

Die vom Volksbegehren bekämpfte Schulreform dürfte aber auch der Realschulausbildung dienen, in der ich – über die Fachoberschule (FOS) oder das Gymnasium – verstärkt das Fundament der Fachhochschulen sehe. Ich bin ein entschiedener Verfechter des weiteren Ausbaus unserer Fachhochschulen, die den praktischen, zweckgerichteten Talenten und Neigungen der Jugend weit mehr entsprechen als dem wohl-verstandenen wissenschaftlichen Anspruch der Universitäten. Unser Land braucht Wissenschaftler und Erfinder. Es braucht aber verstärkt auch "Übersetzertalente", die den technologischen Fortschritt rasch in funktionierende Verfahren, Produkte und Dienstleistungen ummünzen. Das sind vorwiegend die FH-Absolventen. Durch die künftig im 10. Lebensjahr beginnende Realschulausbildung gewinnt dieser "Begabungszug" an Fahrt, dennoch bleibt ihm mit dem mittleren Abschluß die Verzweigungsmöglichkeit (für besonders Begabte) ins Gymnasium oder vorzeitig ins Berufsleben. Die vom BLLV vorgeschla-gene sog. Aufbaustufe in der Hauptschule kann an diese Vorzüge nie heranreichen. Baden-Württemberg hat seit der Staatsgründung die 6-stufige Realschule, entsprechend stark sind Handwerk und Mittelstand.

Die Gymnasien schließlich würden an der auch in Bayern drohenden Inflation vorbeikommen: Im Gymnasium müssen die zu abstraktem Denken befähigten, an Bildungshorizonten interessierten Schüler gefordert und gefördert werden. Das wird für die Lehrkräfte immer schwerer, allerdings nicht schwerer als in den Hauptschulen, nur mit anderen Maßstäben und Zielen. Eine positive Rückwirkung auf die Effizienz der Hochschulausbildung erscheint mir als Folge der "R6" heute schon sicher.

Fazit: Die Schulreform ist ein naheliegender, kleiner aber logischer Schritt. Wir können uns an dieser Stelle Verzögerungen nicht leisten, Verhinderung wäre fatal, denn dieser Schritt setzt die erforderliche große Gymnasialreform voraus. Wenn diese nicht bald kommt, werden die Universitäten das für sakrosankt gehaltene Abitur als allgemein und auf immer gültige Eintrittskarte nicht mehr akzeptieren können.

Als0o: Schluß mit einer sinnlosen Streiterei, die auf dem Rücken unserer Kinder ausgetragen wird! Richtig umgesetzt, ist die "kleine Schulreform" der Staatsregierung ein Gewinn für die unter-schiedlichen, vielfachen Begabungen. Sie bringt für alle Schularten eine pädagogische Qualitätsverbesserung. Die Gleichbehandlung ungleicher Talente und Neigungen war dagegen noch nie ein gutes pädagogisches Prinzip.