Handwerk, Wissenschaft und Technik - gemeinsam ins nächste Jahrtausend

Rede des Präsidenten der Technischen Universität München, Professor Wolfgang A. Herrmann zum Neujahrsempfang des Landreises Kelheim

19. Januar 1999

Die Kultur eines Landes ist eng gekoppelt an den Zustand der Gesellschaft und wird durch nichts nachhaltiger geprägt als durch den Umgang mit den Talenten der jungen Menschen. Wir alten Krokodile aber haben es uns angewöhnt, viel über unsere Befindlichkeit nachzudenken, unsere Renten in sichere Tücher zu bringen, "Mehr Demokratie" zu fordern, und uns über die Gesundheitsbedrohungen durch die letzten ppb’s Cadmium im Abwasser aufzuregen. Man "steigt aus", bevor der Omnibus angehalten hat und der neue fahrtüchtig ist. Wir denken absolut, wo Relatives angezeigt ist. Viel zu wenig denken wir jedenfalls über unser Bildungswesen nach, noch weniger im naturwissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Kontext. Und wenn schon bildungspolitische Themen in die Debatte kommen, dann fallen Interessensverbände und Ideologen darüber her, bevor der erste vorwärtsgerichtete Gedanke eine Chance hat. Damit Sie nicht meinen, auch ich wäre ein Interessensvertreter und es käme mir nur auf die Universitäten an! Wenn mich etwas interessiert, dann ist es die Frage, wie wir die jugendlichen Interessen und Talente fördern, in dem wir sie möglichst profilgenau auf das Ausbildungs- und Bildungssystem abbilden.

Um es vorweg zu sagen: Ich favorisiere ein technokratisches Weltbild gewiß nicht. Zu offensichtlich sind die Nachteile, in die wir uns durch die Loslösung von Wertebezügen, die Abkehr von religiösen Verbindlichkeiten und die Hinwendung zu noch mehr Individualismus gebracht haben. Technologieführerschaft ereignet sich heute auf Märkten mit eigenkulturellen Hintergründen, die wir kennen und achten müssen, um erfolgreich zu sein. Die fernen Kulturen Indiens und Ostasiens, der künftigen Bevölkerungsgiganten im Vergleich zum "europäischen Zwerg", werden uns Wirtschaftsräume in neuen globalen Netzwerken nur öffnen, wenn wir auch das Brauchtum und die geistige Bindung dieser Menschen zu würdigen wissen. Weltoffenheit ist angesagt, und sie beginnt in unseren Schulen. Bildung und Ausbildung, Beruf und Berufsbildung sind sichere Indikatoren einer Landeskultur. Sie treffen sich in ihrer Einheit besonders gut in Handwerk, Wissenschaft und Technik. Darüber will ich heute sprechen.

Bildung und Beruf

Bildung und Beruf wurden früher im Zusammenhang gesehen. Für Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) war die Berufsbildung "die Pforte zur Menschenbildung". Erziehung soll über den Beruf zu innerer Würde führen. Nach einem Gleichgewicht von Theorie und Praxis, von Bildung und Beruf strebte der große Goethe in seinem "Wilhelm Meister" — der Name als Programm! In unserem Jahrhundert integrierte dann Georg Kerschensteiner (1854 - 1932) Bildung, Arbeit und Beruf in eine zeitgerechte Päda-gogik. Den "Belehrungsbetrieb" der allgemeinbildenden Schulen mit ihren unverdaubaren Wissensaggregaten kritisierte er in seiner "Selbstdarstellung" (1926) zynisch wie folgt: "Die mit Wissensstoffen schön patinierten 13jährigen Kinderköpfe erschienen bei der Revision am Ende des 16. Lebensjahres wie blankpolierte hohle Kupferkessel. Die Patina war eine unechte, und drei Jahre Wind und Wetter des praktischen Lebens genügten, sie zu zerstören."

Die berufliche Bildung ist hinter dem stürmischen Ausbau der allgemeinbildenden Schulen seit Kriegsende zurückgeblieben, gegen den Bedarf der modernen Technik, mehr noch: Sie hat dadurch ihre pädagogische Prägekraft verloren. Bildung wurde mit fortschreitender Arbeitsteilung und Spezialisierung zum Symbol für humane Selbsterfüllung: Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Emanzipation, säkularisierter Individualismus. Spätestens seit 1964 der Pädagoge und Philosoph Georg Picht die "deutsche Bildungskatastrophe" ausgerufen hatte, ging es mit der beruflichen Bildung und der sozialen Dimension des Berufs bergab. Die Bildung unserer Tage ist, frei nach Goethe, "gebildet aber bildlos" geworden. Wir haben vergessen, Pestalozzi und Kerschensteiner neben Fichte und Humboldt zu stellen. Schon beginnen wir wieder vom "lebenslangen Lernen" zu sprechen, vom praxisbegleiteten Studium, von Fort- und Weiterbildung als den neuen Märkten der Universität. Handwerkliche und theoretische Begabungen sind Grundlage aller Technologie, der alltäglichen wie der Spitzentechnologie.

Basisinnovationen des 21. Jahrhunderts

Die wirtschaftliche Entwicklung der westlichen Welt läßt sich seit Beginn der Industriellen Revolution durch die "Theorie der langen Wellen" beschreiben. Man teilt sie in sog. Kondratieff-Zyklen ein (Nicolai Kondratieff, 1926), von denen jede durch eine Basisinnovation ausgelöst wurde. Eine Basisinnovation ist als Wirtschaftslokomotive definiert, die aber nicht nur zu einem großen Konjunkturzyklus führt, sondern auch die Reorganisation der gesamten Gesellschaft und ihrer Arbeitsstrukturen umfaßt. Das Kennzeichen der bisher fünf Kondratieff-Zyklen ist die Erschließung immer neuer Knappheitsfelder der Gesellschaft.

1. Kondratieff1800 - 1850Dampfmaschine/Baumwolle
2. Kondratieff1850 - 1900Stahl/Eisenbahn
3. Kondratieff1900 - 1950Elektrotechnik/Chemie
4. Kondratieff1950 - 1975Petrochemie/Automobilbau
5. Kondratieff1975 - 2000 ?Informationstechnologie

Innovation heißt gegenseitige Mobilisierung von Wissenschaft und Wirtschaft. Zuwenig Innovation läuft auf strukturelle Arbeitslosigkeit hinaus.

Für den alsbald einsetzenden 6. Kondratieff-Zyklus, an dessen Schwelle das Bildungswesen eine Schlüsselrolle innehat, gibt es drei Kandidaten, die einen neuen, langen Wirtschaftsaufschwung zu tragen versprechen:

1)Information
2)Neue Materialien und Werkstoffe
3)Biotechnologie, Umwelt und Gesundheit ("Life Sciences")

Während die Information ihre größten Produktivitätsreserven im computergestützten Umgang mit ungenauem Wissen, mit der Optimierung von Informationsflüssen im Menschen (neuronale Netzwerke) und zwischen den Menschen hat (psychosoziale Strukturerfassung und Korrektur-mechanismen), so sieht man in den "advanced materials" die Plattform der Zukunftstechnologien, vor allem in den "optischen Technologien" bei der technischen Erschließung des Lichts (CD-Player, Fotokopierer, Laser-Scanner, lichtemittierende Dioden (LEDs), Lasertherapie). Die Zukunft entsteht nicht aus der Mitte der Wissenschaft heraus, sondern an deren Rändern. Dort begegnen sich die klassischen Disziplinen und entfalten Schubkraft aus der Querschnittbildung. Wenn hier fachliche Kompetenzführerschaft zusammentrifft, namentlich aus Chemie, Physik, Medizin, Maschinenbau sowie Elektro- und Informationstechnik, dann wird man mehr als nur körperverträgliche Diagnostiksensoren und langlebiger Miniaturersatzteile für den menschlichen Körper beischaffen. Nur mit neuen, auf dem Verständnis der nanostrukturierten Materie beruhenden Werkstoffe wird man die Photovoltaik und damit die Energietechnik voranbringen, Kraftturbinen sicherer und effizienter machen, die chemischen Stoff-umwandlungsprozesse vielfältiger aber zielsicherer und gleichzeitig ressourcensparsamer (Katalysatoren), und die Stromübertragung mit Supraleiterkabeln verlustärmer. HighTech-Materialien stellen bisher ungesehene Wertschöpfungen in Aussicht, wenn wir dazu eigene Produktionsstandorte haben und uns auch noch die Herstellung von Großchemikalien wie Schwefelsäure gestatten, solange wir sie noch brauchen.

HighTech-Innovationen ohne Produktionsstandorte sind volkswirtschaftlich sinnlos. Globalisierung heißt nämlich auch Lokalisierung, heißt Vor-Ort-Kompetenz. Ich will nicht so vermessen sein, die Geschichte der Menschheit nach den Werkstoffen einzuteilen, die wir als Werkzeuge benutzt haben. Unbestritten ist aber auch, daß die Werkstoffe — vom Stein über das Eisen, die Bronze, den Zement, den Stahl, das Chip-Silicium — die gesamtkulturelle Entwicklung unserer Spezies geprägt und nachhaltig beeinflußt haben. Wer zu neuen Werkstoffen kommen möchte, muß die besten analytischen Methoden zu ihrer Bewertung haben. Die Neue Forschungs-Neutronenquelle in Garching ist zum Beispiel deshalb erforderlich, weil mit Neutronen als den "besseren Röntgenstrahlen" die nano-dimensionierte Struktur der Materie hochpräzise erfaßbar ist. Das gilt für anorganische Stoffe (Legierungen, Keramiken, Dünnfilmschichten aus Galliumnitrid) ebenso wie für biologische Makromoleküle (Polypeptide, DNA, Enzyme).

Nachhaltigkeit: Das ist das Motiv eines weiteren Wachstumsfeldes, das auf Wissenschaft und Hochtechnologie setzt, nämlich Gesundheit, Umwelt und Ernährung (Stichwort Life Sciences). Nicht ohne Grund spricht man heute von der Biologisierung von Naturwissenschaft und Technik. So wie die Chemie seit Beginn des Jahrhunderts der Natur Synthesemethoden komplizierter Moleküle abschaut und diese fabrikmäßig nachbaut (Naturstoffe, Chemotherapie), so ist es das Verständnis biologischer Wirk-mechanismen, an denen sich morgen ganze Technologien orientieren werden. Wie wird elektrische Ladung in Nervenzellen übertragen, wie legen Elektronen große Strecken in biopolymeren Domänen zurück und steuern dabei Körperfunktionen und Energiehaushalt, wie lassen sich die gigantischen Datenmengen, die den lebenden Organismus ausmachen, ermitteln, aufzeichnen, ordnen und nutzen? Wie setzen die Ingenieure — Architekt, Bauingenieur, Maschineningenieur — tektonische Strukturen und dynamische Funktionsprinzipien der belebten Welt in technisches Gerät um, von der Miniatur bis zur Großanlage? Überhaupt: Das Fertigwerden mit Dimensionsvergrößerungen und -verkleinerungen, von der Natur hinaus in die technische Welt und "zurück zur Natur", erfordert ein Dahinterschauen in der mikroskopischen Welt ebenso wie die Beherrschung der makroskopischen. Der gemeinsame Schlüssel hierzu sind Naturwissenschaft und Technik. Hier darf es keinen Bereich der Erkenntnis geben, dem wir uns verschließen. Das betrifft auch den Erbsubstanzträger im Pflanzen- und Tierreich, die DNA, den größten molekularen Informationsspeicher. Die neue Biotechnologie, die über die Bier- und Penicillinherstellung hinausgeht, ist im Grunde eine Informationsverarbeitungstechnik auf der molekularen Ebene. Nicht nur wegen des hochexponen-tiellen globalen Bevölkerungszuwachses, sondern auch wegen der hohen Individualansprüche in den technologischen Ländern (unserem eigenen z.B.) werden künftig die Landwirtschaft, der Umweltschutz, die Ernährungsindustrie und die Humanmedizin als die Schwerpunktfelder der Life Sciences ohne Biotechnologie nicht auskommen, und man denkt heute schon an Bio-Chips und Bio-Computer als Bausteine fortgeschrittener Informationssysteme. Die Wasser-, Luft- und Bodenreinigung sind weltpolitische Probleme, und gerade für Ballungszentren ist das Thema des waste water treatment (Abfall- und Abwassertechnologien) von vitalem Interesse. Die Kenntnis und die Handhabung von Mikroorganismen (Mikrobiologie) ist erforderlich, um hier voranzukommen; Mikroben-Fabriken ist das Stichwort. Jedoch werden die Nachwachsenden Rohstoffe, Energiestoffe und Werkstoffe vom politisch karnevalistischen Niveau nicht loskommen, wenn es nicht gelingt, Pflanzen durch Optimierung ihres "Gencomputers" so zu erziehen, daß sie bei vorgegebenen Zieleigenschaften (mechanische Festigkeit, chemische Inhaltsstoffe) eine ausreichende Wachstumsgeschwindigkeit mit einem zweckgerichteten Aneignungsvermögen für die Nährstoffe aus dem Boden verbinden. Dummerweise teilen wir die Welt in natürlich und unnatürlich ein, nur weil wir es nicht geschafft haben, einzelne bedauerliche Chemieunfälle wie Bhopal und Seveso als Akronyme für Negativbegegnungen gegen die schlichte Tatsache aufzurechnen, daß wir heute genau doppelt so lange — ich behaupte: auch schöner — leben als die Menschen vor hundert Jahren. Ja, die Technik ist und bleibt ein Januskopf, aber einer, dem wir offen in die beiden Antlitze blicken, indem wir mit Hans Jonas ("Das Prinzip Verantwortung", 1979) dem Prinzip der Hoffnung das Prinzip der Verantwortung, aber nicht das Prinzip der Furcht gegenüberstellen: "Wohl aber gehört die Furcht zur Verantwortung, ebenso wie die Hoffnung." Die selbstlose Furcht, das Fürchten und Zittern, aber auch das Bewundern und Staunen sollte zum Status des modernen Menschen gehören, dem wir unser Schicksal anvertrauen. Die Technik hat die Reichweite des Handelns räumlich und zeitlich erhöht; um so weiter muß auch der Bildungshorizont derjenigen sein, die wissenschaftlich forschen und technisch gestalten.

So gesehen sind die Ausstiegsszenarien der Kernenergie ebenso irrational wie die Verweigerungshaltung gegenüber der Biotechnologie. In den großen Menschheitsthemen Gesundheit, Umwelt und Ernährung werden wir nur vorankommen, wenn wir die Erbinformationen von Pflanze, Tier und Mensch kennen und sie nutzen, je nach Problem und aus unserer Verantwortung als "Krone der Schöpfung". Wer die chemische Medikamentenfabrik nicht mehr möchte, der kann das Nutztier für die Herstellung "organischer" Pharmazeutika bemühen (Gene Pharming) und so auf Fabrikgebäude und technische Anlagen verzichten. Das wird auch die Zukunft sein, so meine ich, je genauer wir etwa die hochkomplexen monoklonalen Antikörper kennen, die die phantasievolle Welt der bösartigen Tumorzellen angreifen. Ob Herstellung neuer Impfstoffe, ob Züchtung schädlingsresistenter Gemüse- und Obstsorten, oder alternativer Pflanzenschutz — der Fortschritt basiert auf Gentechnik und deren Umsetzung, sprich: Biotechnologie. Unverständlich deshalb, daß wir als wissenschaftlich-techni-sches Führungsland und zweitgrößte Exportnation der Erde nur sechs gentechnische Produktionsanlagen haben; Japan hat 130, die Vereinigten Staaten 300. Daß wir 20 gentechnische Arzneimittel in der klinischen Prüfung haben, Japan 50, USA 300. Wir haben 1000 Arbeitskräfte in Gentechnikfirmen, Amerika 100.000. Um den 6. Kondratieff-Zyklus zu tragen, wird eine Basisinnovation etwa 2000 Mrd. US-Dollar Umsatz haben müssen, um als Weltwirtschaftslokomotive zu wirken. Davon sind wir in der Biotechnologie zwar weit entfernt, wir werden aber den Anschluß nicht finden, wenn wir nicht die Spitze der wissenschaftlichen Erkenntnis und ihrer technologischen Realisierungsmöglichkeiten selbst definieren, wenn wir es zulassen, daß einschlägige Gründerexistenzen die deutschen Akzeptanzbarrieren fürchten und ins Ausland abwandern. Abwanderung handwerklich-technischer Intelligenz ist die anarchische Form von Elitebildung, das haben wir im "Dritten Reich" doch gelernt! Dann wird auch zutreffen, was der Journalist Bruce Nußbaum in der amerikanischen "Business Week" schon 1983 vorausgesagt hat:

"Deutschland [ ist] heute eine Nation, die den Wechsel vom "mechanical-engineering zum bio-engineering" nicht schafft. Es kann den Sprung nicht machen von den Präzisionsmaschinen der Vergangenheit mit ihren Tausenden von beweglichen Teilen und Motoren zu den elektronischen Wegwerfgeräten von heute und morgen, und es kann den Sprung nicht machen von der erdölbasierten Chemie zu den biologisch erzeugten Pharmazeutika. Deutschland stellt nach wie vor die besten 19.-Jahrhundert-Produkte der Welt her: schwere Turbinen, wundervolle Autos und Präzisionswerkzeuge. Aber es kann nicht mithalten, wenn es zur Hochtechnologie kommt: zu Robotern, Telekommunikationsausrüstungen, Mikroben-Fabriken, Computern, Halbleitern, Unterhaltungselektronik."

Glücklicherweise ist diese Prognose nicht vollinhaltlich eingetreten, und es waren mutige Männer, wie der Genforscher Ludwig Winnacker, die erkannt haben, daß wir Wissenschaftler uns öffentlich und verständlich artikulieren müssen, um den Menschen Nutzen und Risiko wissenschaftlicher Erkenntnis offenzulegen und so Technikakzeptanz zu stützen.

Nach diesen Anmerkungen werden Sie verstehen, daß wir für die Technische Universität München das Megathema der Life Sciences mit dem Standort Freising-Weihenstephan in die Mitte der Universität stellen, verbunden mit den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Medizin in Garching und München. Sie werden auch verstehen, daß Themen wie Bioinformatik, Bionik, Pflanzen- und Nutztiergenetik aber auch, und durchaus nicht im Widerspruch, der ökologische Landbau bei uns von den Rändern der Erkenntnis weg in die neue Mitte wachsen. Auch das Thema der Nachwachsenden Roh-, Energie- und Werkstoffe ist ohne Natur- und Ingenieurwissenschaften ohne Zukunft. Die Zukunft ist Hochtechnologie.

Und dennoch sind die hochentwickelten Industrienationen in einem eigenartigen gedanklichen Widerspruch. Während das tägliche Leben immer stärker von der Technik durchdrungen wird, wenden sich politische Strömungen davon ab.

Wissenschaftlich-technische Identifikation

Die Menschen im Zeitalter der industriellen Revolution waren davon fasziniert, Maschinen für Menschen arbeiten und Naturvorgänge in Fabriken ablaufen zu lassen — ebenso gut aber viel schneller und zumeist menschenwürdiger! Maschinen haben die Sklaverei abgelöst. Und dazu gehörte auch die chemische Synthese. "Künstlich" — ob Indigo oder Kaut-schuk — war synonym mit technischem Fortschritt, war Triumph der Menschen über die Herrschaft der Natur. Tatsächlich begann sich genau in diesem Zeitabschnitt, Ende des 19. Jahrhunderts, als die Chemie zum Wirtschaftsfaktor wurde, die Identifikationsharmonie zwischen Mensch und Technik zu entwickeln. Die Natur war trotz ihrer Unbilden, die man subjektiv und objektiv tatsächlich als solche empfand, nicht der Feind der Menschen, hatte aber auch nicht jenen hehren Stellenwert, den uns die romantisierende Rückschau heute vormachen will. Nein, die Gesellschaft der letzten Jahrzehnte war bei allem Wandel ihrer Strukturen vor allem der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und dem technischen Fortschritt zugetan. Brüchig wurde diese Allianz erst in den Siebzigerjahren, als die westliche Welt in einer relativen Stabilität wirtschaftlicher Wohlfahrt über die Endlichkeit der Ressourcen und über die Boden- sowie Klimaveränderungen durch Hochindustrialisierung — jetzt als "Überindustrialisierung" empfunden — nachzudenken begann. Aus der Rückschau verständlich, war die Chemie in besonderer Weise betroffen, denn sie ist es ja, die alles Stoffliche hervorbringt, beschreibt und zumeist auch versteht.

Ob es das Indigo, um dessen fabrikmäßige Herstellung man 30 Jahre lang bis an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gerungen hatte (1902), heute nochmal zum "König der Farbstoffe" bringen würde? Wohl kaum. Wurzeldestillat statt Aspirin, Krötenextrakt statt Interferon? Rote Karte für Paul Ehrlich, den Begründer der Chemotherapie. Ich finde, Naturwissenschaft und Technik sollten als legitime, zeitgemäße Ausdrucksformen unserer Kultur begriffen werden, nicht anders als sich jede Epoche künstlerisch, literarisch und philosophisch artikuliert. Allerdings steigt in dem Maße, in dem Wissenschaft und Technik alle Lebensbereiche durchdringen, ja sogar umbauen, die Erfordernis, diesen Prozeß als neuen, integralen Kulturbegriff zu erfassen. Die Zukunft wird einem neuen technologisch-integrativen Wissenstyp gehören. Das heißt: Ingenieur, Chemiker, Physiker von morgen werden geistes-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen "Durchblick" im wahrsten Sinne des Wortes haben müssen. Umgekehrt wird der Arzt, Jurist und Kaufmann ohne Grundkennntnisse naturwissenschaftlich-technischer Zusammenhänge selbst in "seinem" Fach nicht mehr als kompetent gelten, denn sein Entscheidungsraum ist längst nicht mehr technikfrei. Das trifft die Philosophen und Theologen besonders hart, aber es trifft auch sie.

"Wer die Welt mit der Hand begreift....."

Was müssen wir besser machen, wenn wir die Welt von morgen verantwortlich mitgestalten wollen?

Die Politik muß den Fokus auf eine Bildungspolitik setzen, die leistungsorientiert ist. Sie muß bereit sein, die Irrlehre zu begraben, daß die Begabungen und Interessen der jungen Menschen im wesentlichen gleich sind. Haben wir doch den Mut zur Anerkennung der Begabungsvielfalt! Ungleichartige Begabungen sind gleichwertig in einer differenzierten, hoch arbeitsteiligen Gesellschaft. Respekt vor den unterschiedlichen Begabungen und deren Förderungen ist gefragt, Pestalozzi muß wieder neben Humboldt und Kerschensteiner neben Fichte stehen, nicht darunter. Die Begabungsvielfalt entspricht nun einmal einer natürlichen Verteilung, und diese wird durch die berühmte Gauß-Kurve abgebildet, ob man will oder nicht. "Wer die Welt mit der Hand begreift", muß genau so viel gelten wie der scharfe Denker — so hat es unser Bundespräsident in seiner Berliner Rede zutreffend formuliert (5. November 1997).

Unser wie nirgends in der Welt auf Differenzierung angelegtes Bildungswesen muß in dieser Differenzierung besser genutzt sowie durchlässig nach oben werden. Dabei hat die Universität ihre eigene Idee wiederzufinden, die Fachhochschulen sich auf ihren Auftrag zu besinnen, und beide haben sich als einander ergänzende Stätten der "higher education" zu verstehen. Das vermehrt unmittelbar auf das Leben vorbereitende Gymnasium — nur noch drei Viertel aller Abiturienten nehmen ein Hochschulstudium auf — muß sich verstärkt als Bildungsschule und nicht nur als Wissensschule verstehen. Das Gymnasium muß Ausbildungsstätte für Bildung bleiben und verstärkt wieder werden. Das Gymnasialabitur setzt Bereitschaft zur Eröffnung des eigenen Bildungshorizonts voraus. Der Unterschied zwischen den Fachhochschulen, für deren weiteren Ausbau ich plädiere, und den Universitäten muß bewußt größer werden, aber Durchlässigkeiten sind endlich herzustellen. Ideologisch vielfach verneint, ist Bildungsbewußtsein durchaus mit Kostenbewußtsein vereinbar. Vor allem ein Hochschulstudium ist eine lohnende Lebensinvestition, was bei der Neuordnung der Hochschul- und Studienfinanzierung zu beachten ist. Die "Humankapital-Rendite" beträgt bei männlichen Uni-Absolventen 18,7 Jahre (Rückflußdauer 5,4 Jahre), bei FH-Absolventen 28 %, bei Handwerkern nur 16 % , vom höheren Sozialprestige akademischer Berufe und dem viel niedrigeren Arbeitslosenrisiko gar nicht gesprochen. Die Ausbildung im dualen System ist zu stärken, und die Hauptschulen dürfen nicht zu Abstellgleisen für die Vergessenen verkommen. Das würden wir durch Verlust an sozialem Frieden bitter bezahlen. Denn solcherart Verlust geht immer mit Verlust an wirtschaftlicher Produktivität einher.

Abschied von der Gleichheitsfiktion

Nehmen wir Abschied von der Gleichheitsfiktion, die uns international ins Hintertreffen gebracht hat! Wie Heinz Maier-Leibnitz, der große Nestor der deutschen Neutronenphysik und langjähriger Präsident der Deutschen Forschungsgesellschaft, doch sagte: "Gerechtigkeit besteht nicht darin, daß man alle auf dasselbe Niveau drückt!" (An der Grenze zum Neuen, 1977) Unser System ist aber so angelegt, daß gleiche Lehrer gleiche Schüler mit den gleichen Methoden darauf vorbereiten, an gleichen Universitäten das gleiche zu lernen. Die Gleichheitsfiktion hat die Universitäten auf dasselbe Niveau heruntergezogen, aber durch ein unsoziales Finanzierungssystem nicht einmal die soziale Integration geschafft.

Erforderlich ist die Abbildung der unterschiedlichen Begabungen auf unser Ausbildungs- und Bildungswesen und deren Förderung. Ein Bildungsangebot zu unterbreiten heißt Unterschiede zuzulassen. Nicht das Mittelmaß darf das Maß aller Dinge sein; auch die Leistungseliten müssen zu ihrem Recht kommen. Dabei geht es nicht nur um die Förderung der akademischen Eliten; zur Elite gehört auch der Handwerksmeister, der seine Werte überzeugend in seinem Wirkungsfeld vermittelt. Eliten — das sind die Protagonisten und Gestalter des Wandels in allen Bereichen der Gesellschaft, verantwortungs- und leistungsbewußte Persönlichkeiten, die kritische Distanz zum Zeitgeist halten und gelegentlich auch gegen den Strom schwimmen. Eliten gibt es überall in unserer Gesellschaft, an der Werkbank ebenso wie im Forschungslabor und in der Politik. Elite ist kein vererbbarer Zustand, sondern individuelle Qualität, die sich stets neu zu bewähren hat. Egalitè und elite sind kein Widerspruch.

Von der Politik erwarten wir, daß sie den Menschen Mut und nicht Angst macht. In seinen Lebenserinnerungen (Weggefährten, Siedler-Verlag 1996) beklagt Altbundeskanzler Helmut Schmidt den "deutschen Zustand" und sagt, daß in Deutschland alles Neue mit der Angst beginnt. Dies sei der Grund dafür, daß wir in vielen Zukunftstechnologien hinterher hinken, was aufgrund der historischen Entwicklung für die Deutschen keinesfalls naturgegeben sei. Er faßt zusammen: "Wenn wir uns als unfähig erweisen sollten, diese in der Welt einmalige Angst-Psychose zu überwinden, so wird die deutsche Arbeitslosigkeit weiter steigen". (S. 140)

Die Politik ist zuständig für die Rahmenbedingungen, die der Wettbewerb der Begabungen braucht, ohne daß irgendeine Begabungsart diskriminiert wird. Die vernachlässigte berufliche Bildung im dualen System verdient verstärkte Aufmerksamkeit. Wir müssen das Bewußtsein fördern, daß Ausbildung, Bildung und Beruf zusammengehören. Schule und Hochschule sollen zum Beruf führen. Schule ist keine Spaßschule sondern Lernschule. Schule ohne Leistung ist undemokratisch.

Die Universitäten müssen sich rückbesinnen auf die Wissenschaft als ihre zentrale Aufgabe, aus deren Erfüllung die akademische Lehre erst ihren Sinn schöpft. Die Wissenschaft ist — ganz im Humboldtsche Sinne — "als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes" zu verstehen*. Gesucht ist der richtige Weg zwischen dem uneinlösbaren Wesen der Universität und der Schulwerdung der neuen Universität. Die Universitätsforschung hat den Auftrag, die wissenschaftliche Wahrheit zu finden und sie zu verkünden, wenn sie gefunden ist. Vermehrt kommt es auf die Sprechfähigkeit der Wissenschaft in die Gesellschaft hinein an, denn in Zukunft wird vermehrt der öffentliche Konsens über den Auf- und Abbau ganzer Forschungsfelder entscheiden. Sprechen ist Bringschuld. Wissenschaft muß sich artikulieren, und zwar verständlich. Verständlichkeit und Dahinterschauen ist Teil der Akzeptanz. An der Chemie- und Gentechnik-diskussion der vergangenen Jahrzehnte ist uns dieses Phänomen bewußt geworden, wir hatten seine Bewußtseinsbrisanz unterschätzt.

Die Universität hat die Aufgabe, die an Wissenschaft interessierte Jugend am wissenschaftlichen Gegenstand auszubilden, möglichst an der Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts. Exemplarisch ein tiefes wissenschaftliches Loch bohren, das muß moderne Universitätsausbildung leisten. Die Fachhochschulen vermitteln unmittelbar praxistaugliches Wissen, das einer raschen Umsetzung zugeführt wird. Berufsfähig die einen, berufsfertig die anderen — auf diese vereinfachte Faustformel kann man den Auftrag bringen.

Universitäten sollen Nobelpreiswissen erfinden, aber auch die Übersetzer-talente ausbilden, die dieses Nobelpreiswissen in funktionierende Produkte, Verfahren und Dienstleistungen übersetzen. Mutig müssen wir unsere Position zwischen dem Elfenbeinturm der Wissenschaft und der verlängerten Werkbank der Industrie finden und immer wieder neu einstellen und behaupten, ohne den Bezug zu den wissenschaftlich-technischen Herausforderungen unserer Wirtschaft zu verlieren. Nur wirtschaftliche Wohlfahrt sichert auch die Arbeitsplätze in der Wissenschaft. Inhaltlich und strukturell sollten die Universitäten verstärkt auf Wettbewerb, Selbstverantwortung und Internationalität setzen. Leistungen in Forschung und Lehre sind saldierbar; die Kriterien hierfür sind in erster Näherung bekannt. Der Ehrgeiz muß darin bestehen, daß die Universität wieder zur "zentralen Instanz im geistigen Haushalt der Nation" wird, wie der Historiker Thomas Nipperdey die Stellung der Universität des 19. Jahrhunderts so unübertrefflich schön charakterisiert hat. Gefragt ist eine Bundesliga Hochschule mit Auf- und Absteigern. Dann erst werden Profile sichtbar, die den Vergleich gestatten und den Wettbewerb beflügeln.

Die Wirtschaft sollte die Allianz mit dem neuen Wissen als ihre größte Chance begreifen. Neues Wissen aber ist eine Sache der Jugend: Nach Expertenschätzung entstehen die Schlüsselergebnisse der Grundlagenforschung weit überwiegend (> 90 %) durch die Arbeit der Nachwuchswissenschaftler, die jünger als 33 Jahre sind, hauptsächlich also in den Universitäten und sonstigen Forschungseinrichtungen des Landes. Forschung ist nicht wie eine Glühlampe, die man nach Bedarf ein- und ausschaltet. Forschung bedeutet Kontinuität des Wissenschaftssystems. Ohne Forschungskultur keine Forschungsergebnisse an der Spitze der Wissenschaft! Naturwissenschaftlich-technische Forschung ist heute organisierte Wahrheitssuche, die große, komplexe Apparate und Apparatismen voraussetzt, also "kritische Masse". Nur so ist diese Forschung auch nachhaltig im volkswirtschaftlichen Sinne. Die Wirtschaft muß Zukunftstechnologien beherzt aufgreifen und die Erfindungsschmieden der Hochschulen fördern. Abwartende Haltung ist in einer Zeit internationaler Wissensvernetzung schädlich, und das größte Risiko besteht darin, daß die Chance zum Neuen nicht genutzt wird. Auch wenn ich weiß, daß das deutsche Steuerrecht die erheblichen Sparvermögen fleißiger Nachkriegsgenerationen für Stiftungen nicht ermutigt, so brauchen wir gerade in der Wissenschaft Mäzene, die beides haben: Geld und Vertrauen, Geld für und Vertrauen in die wissenschaftliche Jugend. Es entsteht neues Wissen nirgends mit geringeren Kosten als in den Köpfen unserer jungen Menschen. Daß die Wirtschaft Fehler macht, wenn sie nicht jeden nur möglichen Ausbildungsplatz einrichtet, muß nicht gesagt werden. Selbst unsere Universität hat in den letzten Jahren 150 Lehrlingsausbildungsplätze in den verschiedensten modernen Disziplinen geschaffen. Bei uns begegnen sich Handwerk und Wissenschaft, weil sie in den technischen Fächern zusammengehören.

Die Medien müssen positiv und aufrichtig der Zukunft gegenüberstehen. Sie müssen sich als Multiplikatoren des Mutes verstehen und die guten Nachrichten höher schätzen als die schlechten.

Die Menschen schließlich — ich sage nicht Gesellschaft, weil ich nicht weiß, was das ist — müssen an die Zukunft ihres Landes glauben und sich gestatten, Patrioten im globalen Dorf zu sein.